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Abstracts und Vorträge der LVR-Fokustagung 2020

9.45 Uhr || Ätiologie und Diagnostik der Depression: was gibt es Neues?

Prof. Dr. Claus Normann, Freiburg

Trotz Ihrer Häufigkeit ist die Neurobiologie der Depression schlecht verstanden. Die Monoaminhypothese, die vor nunmehr fast 60 Jahren formuliert wurde, ist sicher nicht die einzige Erklärung der Depression; eine Reihe von klinischen und experimentellen Befunden sprechen gegen ihre Richtigkeit. Klinisch bestätigt sich eine allgemeine Vulnerabilitäts-Stress-Hypothese, die neurobiologisch am besten durch eine entscheidende Rolle plastischer Veränderungen bei Entstehung, Aufrechterhaltung und Therapie der Depression erklärt werden kann. In Tiermodellen, aber auch beim Menschen, zeigt sich eine Dysbalance der synaptischen Plastizität bei depressiven Zuständen, die durch Antidepressiva korrigiert wird. Plastizität ist ein Grundbaustein von Lernen und kann auch durch psychotherapeutische Lernvorgänge beeinflusst werden, ebenso durch Stimulationsmethoden. Die schnelle klinische Wirksamkeit des NMDA-Antagonisten Ketamin und erste Befunde zu seinem Wirkmechanismus weisen auf eine entscheidende Rolle des glutamatergen Systems bei affektiven Erkrankungen hin. Die allmähliche Abkehr von der Monoaminhypothese ermöglicht die Entwicklung neuer Therapiestrategien im Bereich von Medikamenten und Stimulationsmethoden und die Überwindung der Innovationskrise in diesem Bereich. Es wird immer deutlicher, dass die alleinige Gabe von Antidepressiva bei vielen depressiven Verläufen nicht ausreichend ist, sondern, auch neurobiologisch begründet, mit Umweltveränderungen oder psychotherapeutischen Interventionen kombiniert werden muss.

10.30 Uhr || Früherkennung und Prävention der Depression

Prof. Dr. Birgit Janssen, Langenfeld

Arbeitsunfähigkeit und Berentungen aufgrund psychischer Erkrankungen haben in den letzten Jahren in Deutschland deutlich zugenommen. In diesem Zusammenhang nimmt auch das Thema Burn-out einen immer größeren Stellenwert ein. In dem Beitrag sollen, neben einer aktuellen Einführung in die Relevanz des Themas, die Unterschiede zwischen dem Risikozustand Burn-out und einer affektiven Störung sowie anderen psychischen Erkrankungen dargestellt werden, um zu einer sicheren Abgrenzung zu kommen. Es sollen Ansätze zur Primärprävention, zur Sekundärprävention aber auch insbesondere zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit nach einer psychischen Erkrankung dargestellt und am Beispiel neuer Behandlungsansätze konkretisiert werden. Hierbei sollen sowohl protektive Faktoren von Arbeit als auch belastende Faktoren von Arbeit herausgearbeitet und hinsichtlich ihrer klinischen Relevanz eingeordnet werden.

11.15 Uhr || Pharmakotherapie – Akut- und Erhaltungstherapie der Depression

Prof. Dr. Tom Bschor

Die Akuttherapie hat das Ziel, die aktuelle depressive Episode möglichst rasch und vollständig zum Abklingen zu bringen. Da viele Patienten nicht auf eine erste Behandlungsstufe (Antidepressivum-Monotherapie) ansprechen, werden häufig mehrere Behandlungsstufen bis zum Erreichen der Remission erforderlich. Für eine effektive Therapie ist es erforderlich, dass am Ende jeder Behandlungsstufe, zu einem vorher festgelegten Zeitpunkt (in der Regel nach 3-4 Wochen) systematisch überprüft wird, ob eine Response eingetreten ist, und dass für weitere Behandlungsstufen ausschließlich Strategien verwendet werden, deren Wirksamkeit in klinisch-kontrollierten Studien nachgewiesen wurde. Hierzu gehört überraschenderweise nicht der Wechsel auf ein neues Antidepressivum, insbesondere die Aneinanderreihung immer neuer Antidepressiva sollte vermieden werden. Ebenfalls zeigt sich, dass eine SSRI-Aufdosierung nicht wirksamer ist, als bei der Standarddosis zu bleiben. Empfehlenswerte Strategien hingegen sind Therapeutisches Drug Monitoring, Lithiumaugmentation und bestimmte Kombination von zwei Antidepressiva.
Wurde die Remission erreicht, muss allen Patienten eine mindestens sechsmonatige Erhaltungstherapie mit möglichst unveränderter Medikation empfohlen werden, da in diesem Zeitraum ein sehr hohes Risiko für frühe Rezidive besteht. Antidepressiva sind in der Erhaltungstherapie in klinischen Studien effektiver als in der Akuttherapie. Es besteht die Sorge, dass dies teilweise dadurch bedingt ist, dass ein Absetzen von Antidepressiva nach mehrwöchiger Therapie über Rebound-Phänomene zu einer prompten und heftigen Wiederkehr der Depression führen kann.

11.45 Uhr || Psychotherapie der Depressionen

Priv.-Doz. Dr. Dieter Schoepf

Speziell für Patienten mit langandauernder bis chronischer Depression wurde das Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) in den USA entwickelt und hat seine Wirksamkeit mittlerweile auch in Deutschland, Holland und Schottland bewiesen. Das CBASP kombiniert moderne Verhaltenstherapie mit einem erweiterten lebensgeschichtlichen Verständnis und intensiver Beziehungsarbeit. Aufbauend auf der Darstellung des Therapiemodells mit den Kernelementen der ersten Behandlungsphase und den drei Arbeitsebenen in der zweiten Behandlungsphase werden die relevante amerikanische und europäische Studienlage interpretiert. Anschließend werden die Ergebnisse aktueller repräsentativer Prädiktoren und Moderatenanalysen aus dem Kompetenzzentrum CBASP des Universitätsklinikums Bonn in Zusammenarbeit mit Vitos Weil-Lahn demonstriert. Die Ergebnisse der Prädiktorenforschung deuten auf eine multifaktorielle Interaktion zwischen psychopathologischen Symptomen und Kindesmisshandlungen hin, die zum persistierenden Verlauf der chronischen Depression beitragen. Die Ergebnisse der modernen kombinierten Moderatorenforschung zeigen, dass die Effektstärken, d.h. die differentielle Wirksamkeit, sowohl im Vergleich zwischen störungsspezifischer Psychotherapie und medikamentöser Behandlung als auch im Vergleich zwischen störungsspezifischer- und supportiver Psychotherapie bei chronisch depressiven Patienten mit frühem Krankheitsbeginn in Abhängigkeit des Phänotyps in der Wirkung variieren. Von psychotherapeutischer Seit ist zu schlussfolgern: Je höher das Ausmaß an interpersoneller Angst und Traumatisierung ist, desto stärker sollte das Inhibitionslernen im spezifischen interpersonellen Problembereich optimiert werden.

13.15 Uhr || Besondere Aspekte der Altersdepression

Dr. Peter Häussermann, Köln

Die Ätiologie wie auch die Behandlung von Depressionen in der zweiten Lebenshälfte weist einige Besonderheiten auf. Depressionen im Alter kommen gehäuft nach Schlaganfällen und Herzinfarkten sowie auch bei neurodegenerativen Erkrankung vor. Als Risikofaktoren gelten weiterhin hirnorganische Schädigungen, chronische Schlafstörungen, schwere körperliche Erkrankungen, einschneidende Lebenssituationen wie auch das zumeist im Alter schrumpfende soziales Netzwerk. Viele ältere Patienten mit einer Depression zeigen ein stark somatisch geprägtes klinisches Bild, bei dem komplexe Schmerzsyndrome, Unruhe, Schlafstörungen, Schwindel sowie auch kognitive Störungen im Vordergrund stehen. Eine besondere Herausforderung stellt die Abgrenzung zwischen Depression und Demenz dar. Das Vorliegen wiederholter depressiver Episoden erhöht gleichzeitig die Auftretenswahrscheinlichkeit für eine Demenzerkrankung.
Das Behandlungsspektrum umfasst im höheren Lebensalter neben Psychoedukation auch die Pharmakotherapie, verschiedene psychotherapeutische Ansätzen und supportive Verfahren wie Lichttherapie, Wachtherapie oder die Augmentation mit Lithium bzw. Schilddrüsenhormonen. Auch die EKT-Behandlung im Alter hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.
Die klinische Erfahrung und auch die wenigen vergleichenden Studien zeigen, dass Psychotherapie im Alter ähnliche Erfolgsaussichten hat wie bei jüngeren Patienten.
Die Besonderheiten in der Pharmakotherapie von Depressionen im Alter haben einen Bezug zu den pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Veränderungen in dieser Patientengruppe. Die Wahl des Antidepressivums erfolgt unter Berücksichtigung von Halbwertszeiten, Interaktionspotentialen und potentiellen cholinergen Nebenwirkungen der Präparate. Depressive Erkrankungen im höheren Lebensalter neigen zur Chronifizierung, da sie oft erst spät erkannt und auch immer wieder nur inadäquat behandelt werden.

13.45 Uhr || Altersdepression aus pflegewissenschaftlicher Sicht

Prof. Dr. Rüdiger Noelle, Bielefeld

„Depressive Syndrome sind […] nach Ansicht der meisten transkulturell forschenden Psychiater universell vorhanden“ (Krones, 2001: 214). Über kulturelle Bereiche hinweg besteht ein gemeinsamer, hochsignifikanter Zusammenhang von gesundheitlichen Beeinträchtigungen und depressiven Syndromen. Hochsignifikant ist ebenfalls der Zusammenhang zwischen der Depression und der Unterstützung durch Freunde, wobei es keine Wechselwirkung zwischen den Variablen gibt und damit kein Puffereffekt der sozialen Unterstützung gezeigt werden konnte.
Nach den meisten epidemiologischen Studien in Deutschland treten depressive Syndrome bei Frauen häufiger auf als bei Männern.
In der Versorgung depressiv erkrankter Menschen, die verlaufsorientiert sein sollte, hat Pflege den Stellenwert einer Querschnittsaufgabe. Deshalb obliegt ihr die Kooperation mit den verschiedensten Berufsgruppen und ebenso mit informellen Helfersystemen. Es gilt ein Gespür dafür zu bekommen, aus welcher Ausgangslage sich die Stimmung des zu Pflegenden entwickelt hat. Hierzu ist der Kontakt zu den Angehörigen bzw. zum gesamten Lebensumfeld des Betroffenen die Grundlage. Der professionellen Bezugspflegekraft wird dabei im Zuge der zu erwartenden Veränderungen in der Pflegelandschaft und dem Gesundheitswesen mehr und mehr Bedeutung bei der Einschätzung von Krankheitszeichen zukommen, so dass der Umgang mit validen Instrumenten zur einschätzungsunterstützenden Diagnostik eine vermehrte Bedeutung erlangen wird. Dabei können nicht automatisch alle als valide und reliabel belegten Instrumente bei jedem Menschen und in jeder Situation eingesetzt werden.

14.45 Uhr || Was wird aus dem depressiven Kind?

Dr. Ingo Spitczok von Brisinski, Viersen

Die Depression im Kindesalter ähnelt hinsichtlich vermindertem Interesse an Aktivitäten, Gefühlen von Wertlosigkeit, verminderter Fähigkeit sich zu konzentrieren oder sich zu entscheiden sowie wiederkehrender Gedanken über den Tod der Erwachsenenform. Allerdings kann statt depressiver Stimmung auch reizbare Stimmung vorliegen. Sowohl klinische als auch epidemiologische Studien zeigen, dass 40 bis 70% aller Kinder und Jugendlichen mit Depression zusätzlich unter einer weiteren psychiatrischen Erkrankung leiden, viele Jugendliche haben auch 2 oder mehr komorbide Diagnosen. Es ist unklar, ob die psychosozialen Störungen Vorläufer oder Folgen einer Depression sind. Faktoren, die häufig mit Depressionen verbunden sind, wie komorbide psychiatrische Störungen, beeinträchtigtes familiäres Funktionsniveau, niedriger sozioökonomischer Status und stressige Lebensereignissen, wirken sich jedenfalls auf psychosoziale Funktionen aus. Viele Kinder und Jugendliche werden nach einiger Zeit symptomfrei, bei etwa 50% tritt jedoch im Erwachsenenalter erneut mindestens eine depressive Episode auf. Während bei Mädchen die Symptomatik über die Zeit eher zunimmt, nimmt sie bei Jungen eher ab. Depressive Symptome bei der Mutter erhöhen bei beiden Geschlechtern das Risiko für eine starke Ausprägung der Symptomatik. Langzeitstudienergebnisse sprechen dafür, dass Kinder mit präpubertärer Depression als junge Erwachsene im Vergleich zu gesunden mehrfach erhöhte Raten von bipolaren Störungen, Substanzmissbrauchsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens, Suizidversuchen sowie psychiatrischer und anderer medizinischer Versorgung aufwiesen. Dabei wird das Outcome offenbar weniger vom Schweregrad einzelner depressiver Episoden negativ beeinflusst als von einem persistierenden, nichtepisodischen Charakter. Ein Drittel der Kinder, die wegen ihrer Depression stationär behandelt wurden, werden als Erwachsene mindestens einmal in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen.

15.15 Uhr || Stellenwert der Neuromodulation bei affektiven Störungen

Prof. Dr. Thomas Schläpfer, Freiburg

Die gezielte Erforschung von Effekten der der tiefen Hirnstimulation bei therapieresistenten Erkrankungen könnte zu der bedeutendsten Entwicklung in der klinischen Psychiatrie der letzten vierzig Jahre führen - möglicherweise ein Hoffnungsschimmer für Patienten, denen die Medizin bisher wenig zu bieten hatte. Darüber hinaus wird uns die translationale Forschung zur Neuromodulation ermöglichen, ganz neue Informationen über Funktion und Dysfunktion von emotionalen Netzwerken zu erfahren.
Wir glauben, dass gezieltere Behandlungsansätze, die spezifische stimmungsassozierte Netzwerke im Gehirn modulieren, einen effektiveren Ansatz zur Unterstützung behandlungsresistenter Patienten darstellen werden. Mit anderen Worten, während bestehende Depressionen diese Krankheit als allgemeine Hirndysfunktion behandeln, wird sich eine vollständigere und angemessenere Behandlung ergeben, wenn man an Depressionen als eine Dysfunktion spezifischer Gehirnnetzwerke denkt, die Stimmungs- und Belohnungssignale vermitteln. Ein besseres Verständnis definierter Dysfunktionen in diesen Netzwerken wird immer zu einem besseren Verständnis von Patienten mit Depressionen führen und vielleicht zu einer Entstigmatisierung von psychiatrischen Patienten und dem sie behandelnden medizinischen Fachgebiet beitragen.

15.45 Uhr || Innovative therapeutische Verfahren: Botox

Priv.-Doz. Dr. M. Axel Wollmer

Eine Reihe von klinischen Studien hat gezeigt, dass die einmalige Injektion von Botulinumtoxin in die Glabella-Region die Symptome einer Depression schnell deutlich und anhaltend lindern kann. Am ehesten kann der antidepressive Effekt von Botulinumtoxin mit der von Charles Darwin und William James begründeten Facial Feedback-Hypothese erklärt werden: Durch die Lähmung der Muskeln, die die depressive Affektlage mimisch ausdrücken, wird eine diese Affektlage aufrechterhaltende und verstärkende propriozeptive Rückkopplung vom Gesicht zum Gehirn unterbunden. Erste Erfahrungen in der Behandlung von Patienten mit anderen psychischen Störungen weisen auf die Möglichkeit hin, dass die Botulinumtoxin-Therapie zu einem störungsübergreifenden Therapieansatz in der Psychiatrie weiterentwickelt werden könnten, der dem Übermaß an negativen Emotionen, welches bei den meisten psychischen Störungen eine zentrale Rolle spielt, gezielt entgegenwirkt.

16.15 Uhr || Innovative therapeutische Verfahren: Ketamin

Prof. Dr. Malek Bajbouj

Das Narkosemittel Ketamin hat in den vergangenen Jahren in der Psychiatrie zunehmend Interesse als neuartige Behandlung von therapieresistenten Depressionen erlangt und hat im Frühjahr 2019 die Zulassung durch die FDA erhalten. Inzwischen existieren eine Vielzahl an unabhängigen Studien, die nahelegen, dass Ketamin bei einem relevanten Anteil der behandelten Patienten antidepressiv wirken kann. Der häufig frühe Wirkbeginn und Studien zu spezifisch antisuizidalen Effekten wecken Hoffnungen, dass Ketamin das Potential hat ein neues Instrument im Repertoire zur Therapie schwer behandelbarer Depressionen zu werden. Umgekehrt stimmen die missbräuchliche Verwendung der Substanz bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie die Vermittlung des Effektes über das Opioidsystem eher vorsichtig und sprechen gegen eine schnelle und breite Verwendung. In dem Vortrag soll ein Überblick über den Wirkmechanismus, Einsatzmöglichkeiten und Limitationen bei der Behandlung von Depressionen mit dem Anästhetikum Ketamin gegeben werden.

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