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Abstracts der LVR-Fokustagung 2023

09:45 Uhr || Medizinhistorie: Wie die PTSD nach dem zweiten Weltkrieg entstand

Univ.-Prof. Dr. Heiner Fangerau, Düsseldorf

Im Jahr 1980 wurde das Krankheitsbild der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) in das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association aufgenommen. Dieses nosologisch relativ junge Konzept wird gerne mit angeblichen historischen Vorläufern verglichen. Besonders das nach dem Ersten Weltkrieg als Massenphänomen beobachtete Kriegszittern wird hier oft mit der PTSD in Verbindung gebracht. Zu bedenken ist bei solchen historischen Vergleichen, dass wissenschaftliche Beschreibungsformate, Umstände und auch Symptomatiken der Vergangenheit sich so sehr von heutigen Konzeptionen unterscheiden, dass sich zwar historische Bezugspunkt ergeben, eine retrospektive Übertragung der PTSD auf frühere diagnostische Komplexe aber mehr als problematisch ist.

Der Vortrag verfolgt die These, dass das Krankheitsbild der PTSD zwar auf frühere Krankheitsphänomene wie die Neurasthenie und das sogenannte Kriegszittern aufsetzte, aber gleichzeitig eine neue Diagnose eignen Rechts darstellte, die vor allem im Umfeld des Vietnam-Kriegs im Wechselspiel zwischen kultureller Repräsentation von Krankheit und Trauma, medizinischer Beobachtung und wissenschaftlicher Beschreibung entstand.

10:15 Uhr || Ätiopathogenese, Diagnostik und Klassifikation der PTSD

Prof. Dr. Dr. Andreas Maercker, Zürich

Zu den Trauma- und Belastungsfolgestörungen gehören die Posttraumatische Belastungsstörung, die im ICD-11 der WHO vorgesehene Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung sowie die Anpassungsstörungen und Anhaltende Trauerstörung. Diese Störungen haben nach gegenwärtigem Wissenstand miteinander verwandte Symptomatik und Ätiologien. Der Vortrag stellt wichtige Modelle für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Trauma- und Belastungsfolgestörungen vor. Dies beginnt mit einem multifaktoriellen Rahmenmodell, in dem die erforschten Risiko- und Schutzfaktoren zusammengefasst sind. Dabei sind die Trauma-Art, die Trauma-Schwere (oder Traumadosis) nur zwei von vielen relevanten Faktoren. Weiterhin werden Traumagedächtnis-Modelle, kognitive Störungsmodell(e) und ein sozial-interpersonelles Modell vorgestellt sowie ein Blick auf relevante Neuroscience-Modelle der Störungen geworfen. Die ätiologischen Modelle legen die Grundlagen für die Anamnesestellung, Diagnostik, Differentialdiagnostik und Therapieindikations¬stellung. Etablierte Verfahren der Diagnostik und der häufigsten Schwierigkeiten dabei werden im Vortrag ebenfalls vorgestellt.

11:15 Uhr || Akute Traumatisierung: Aufgaben und Möglichkeiten von Psychosozialer Notfallversorgung, Primärärztlicher Versorgung und Psychotherapie – Lehren aus der Flutkatastrophe in NRW

Ulrike Schultheis, Köln

Die Reaktionen von Menschen auf potentiell traumatisierende Ereignisse sind individuell sehr unterschiedlich und die Häufigkeit akuter Symptomatik und chronischer Traumafolgen hängen von diversen inneren und äußeren Faktoren ab. Neben Art und Schwere des Traumas ist die wahrgenommene soziale Unterstützung dabei einer der relevanten posttraumatischen Schutzfaktoren. Mit der Flutkatastrophe im Sommer 2021 im Ahrtal und der Eifel haben wir in der Region eine Naturkatastrophe völlig unerwarteten Ausmaßes erlebt und es gab eine große Zahl traumatisierter Menschen. Im Vortrag sollen verschiedene Aspekte professioneller psychosozialer Unterstützung und medizinischer Versorgung betrachtet werden. Der Fokus liegt auf der Frage, welche Maßnahmen und Angebote nach heutigem Stand der Wissenschaft sinnvoll und notwendig sind und wer sie erbringen kann. Dabei werden immer die Besonderheiten, welche die Flutkatastrophe für die Versorgung der betroffenen Regionen dargestellt hat, berücksichtigt sowie die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten, Herausforderungen und Chancen für die Zukunft in den Blick genommen.

12:00 Uhr || Psychotherapie der PTSD einschl. häufiger Komorbiditäten

Prof. Dr. med. Ingo Schäfer, MPH, Hamburg

Zur Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) existiert eine wachsende Zahl von evidenzbasierten Therapieansätzen. Besonders traumafokussierte Verfahren, deren Schwerpunkt auf der Verarbeitung der Erinnerung an das traumatische Ereignis und/oder seiner Bedeutung liegt, erreichen hohe Effektstärken. In den letzten Jahren wendet sich das Feld zunehmend Patient:innengruppen mit komplexeren Problemen zu, etwa Erwachsenen die von sexueller und/oder körperlicher Gewalt in der Kindheit betroffen waren. Ihre Beschwerden lassen sich oft mit der Diagnose „Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ beschreiben. Auch zu Patient:innen mit Komorbiditäten wie Suchterkrankungen, Psychosen oder Persönlichkeitsstörungen liegen inzwischen Studien vor, die zeigen, dass die Folgen traumatischer Erfahrungen bei diesen Zielgruppen sicher und effektiv behandelt werden können. Im Vortrag wird ein Überblick über die Psychotherapie der PTBS gegeben und es wird diskutiert, wie evidenzbasierte Therapieansätze für bislang zu wenig erreichte Gruppen von Patient:innen noch breiter disseminiert werden könnten.

13:45 Uhr || Psychotherapie der PTSD bei Geflüchteten: Herausforderun-gen und Lösungsansätze

Dr. phil. Dipl.-Psych. Maria Böttche, Berlin

Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten erleben sowohl prä- und peri- als auch postmigratorisch belastende und traumatisierende Situationen. Das wiederholte Erleben von menschen-gemachten Traumatisierungen erhöht die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer Traumafolgestörung, die sich sowohl auf somatischer als auch psychischer Ebene manifestieren können. Zu den häufigsten psychischen Traumafolgestörungen gehören die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und die Depression.

Studien zeigen, dass bestehende psychotherapeutische Interventionen (teilweise) wirksam in der Reduktion psychischer Traumafolgestörungen sind. Mit Blick auf die Praxis wird jedoch deutlich, dass die psychotherapeutische Versorgung von Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten über eine rein psychotherapeutische Intervention hinausgeht und ein multimodales Behandlungskonzept aus psychotherapeutischer Intervention, sozialarbeiterischen Tätigkeiten, medizinischer und psychiatrischer Versorgung sowie aufenthaltsrechtlicher Beratung erfordert.

Im Vortrag sollen psychotherapeutische Ansätze sowie damit verbundene Herausforderungen und Lösungsansätze aufgezeigt werden.

14:30 II Pflegerischer Umgang mit Menschen mit PTSD

Marvin Kaiser, Düren

Die Welt, in der wir leben, ist nicht für jeden Menschen gleich sicher. Manchen Menschen passiert Schreckliches und wir versuchen, sachlich über etwas zu sprechen, das zutiefst bewegt. Für die psychiatrische Pflege ist die PTSD eine besondere Krankheit, weil sie eindrucksvoll und komplex ist. Auf Grund der Vielzahl der Symptome und Komorbiditäten, die mit der PTSD einhergehen, ist es für Pflegefachpersonen manchmal schwer, die passenden Pflegeinterventionen anzuwenden. Die generalisierte Ausbildung in der Pflege bereitet unseren Nachwuchs nicht ausreichend genug auf dieses Krankheitsbild vor. Aktuell hat auch die Pflegewissenschaft ihre Probleme damit, Konzepte oder Interventionen zu empfehlen. Selbst wenn es ein passendes pflegerisches Konzept gäbe, stellt sich die Frage, ob dieses überhaupt unter den aktuellen pflegeökonomischen Bedingungen anwendbar ist?!

15:30 Uhr II Besonderheiten der PTSD im Kindes- und Jugendalter

Dr. phil. Dipl.-Psych. Michael Simons, Aachen

Der Vortrag befasst sich mit Risikofaktoren, der Prävalenz und Behandlungsoptionen der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bei Kindern und Jugendlichen. Etwa ein Fünftel von Kindern und Jugendlichen entwickelt nach einem traumatischen Ereignis eine PTBS. Mädchen sind häufiger betroffen als Jungen. Zwischenmenschliche Traumata gehen mit einem höheren PTBS-Risiko einher als akzidentielle Traumata. Prävalenzzahlen sind immer auch abhängig von den zugrundeliegenden Diagnosekriterien. Die zukünftigen Kriterien nach ICD-11 haben sich diesbezüglich als für Kinder und Jugendliche teilweise problematisch erwiesen. Es besteht ein hohes Risiko, bei durchaus belasteten Kindern und Jugendlichen fälschlicherweise keine PTBS-Diagnose zu vergeben und sie auch nicht adäquat zu behandeln.

Zur Behandlung: Immer wieder heißt es, in strafrechtlich relevanten Fällen sollte mit dem Beginn der Behandlung bis zum Abschluss des juristischen Verfahrens gewartet werden. Solche Äußerungen sind lebensfern und als ethisch bedenklich einzustufen. Als mögliche Behandlungsoptionen werden insbesondere bewährte kognitiv-verhaltenstherapeutische und auch innovative metakognitive Interventionen dargestellt.

16:00 II PTSD: Auch eine Erkrankung des höheren Lebensalters?

Priv.-Doz. Dr. med. Stefan Schröder, Güstrow

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS bzw. PTSD) und – als neue nosologische Entität gemäß ICD-11 – auch die komplexe PTBS (kPTBS bzw. cPTSD) stehen im Fokus psychiatrischer Forschung und Praxis. Der Einfluss unserer Erlebnisse auf unsere Psyche und unsere Persönlichkeit rückt damit stärker in den Vordergrund unserer Disziplin. Der Einfluss dieser Erlebnisse erstreckt sich ja sogar auf unsere Nachkommen, nicht nur durch Vorbild und Pädagogik, sondern sogar epigenetisch. Psychotraumatologisch-psychotherapeutisches Denken und Handeln bekommt somit größeren Raum, wie die verdienstvolle LVR-Fokustagung am 15.03.2023 in Köln unterstreicht. Dies gilt auch für das Feld der Altersmedizin. Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine seit dem 24.02.2022 kommen bei unseren höchstaltrigen Mitmenschen Erinnerungen an den zweiten Weltkrieg hoch, die wir therapeutisch aufzufangen haben.

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