Direkt zum Inhalt

Abstracts der LVR-Fokustagung 2022

09:45 Uhr || Essstörungen – eine Erkrankungsgruppe im (pandemiebedingten) Umbruch

Prof. Dr. med. Stephan Zipfel, Tübingen

In meinem Vortrag werde ich aktuelle Daten zur Veränderung der globalen Prävalenz von Essstörungen, ergänzt durch den Aspekt der Covid-19 Pandemie, berichten. Im weiteren Vortrag werde ich mich auf pathophysiologische, diagnostische und psychotherapeutische Aspekte bei der Anorexia nervosa beziehen. Dabei werden auch Studien zur pharmakologischen Therapie diskutiert. Im Lichte der aktuellen Veröffentlichung unserer 5-Jahresnachuntersuchung der weltweit größten Psychotherapiestudie (ANTOP), werde ich ebenfalls auf relevante Prädiktoren des Therapieverlaufes eingehen. Abschließend werden Ergebnisse ergänzender Therapieelemente zur Steigerung der Therapiemotivation kurz vorgestellt und das Studiendesign der Sustain Rückfall-Prophylaxe-Studie, die derzeit als multizentrische Studie in Deutschland durchgeführt wird, erläutert.

10:15 Uhr || Genetische Grundlagen der Anorexia nervosa – einer metabopsychiatrischen Störung

Prof. Dr. rer. nat. Anke Hinney, Essen

Genetische Varianten beeinflussen die Entwicklung von Essstörungen ebenso wie die Gewichtsregulation. Zunächst haben familienbasierte, sogenannte formalgenetische Studien den erblichen Anteil an der Gewichtsregulation und an der Ätiologie von Essstörungen beleuchtet. In einer Vielzahl von Studien konnten Erblichkeitschätzer (Heritabilitäten) von über 50 Prozent für die Entstehung von Essstörungen gezeigt werden. Auch zur Varianz des Körpergewichtes tragen genetische Varianten mindestens zur Hälfte bei. Mit diesen Erkenntnissen begab man sich in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf die Suche nach den zugrundeliegenden Genen (genauer: genetischen Varianten), die Essverhalten, Körpergewicht, oder beide Phänotypen auf Grundlage geteilter Mechanismen beeinflussen. Zunächst wurden Kandidatengenstudien durchgeführt. Dabei untersuchte man auf Grundlage unterschiedlicher, v.a. aber pathophysiologisch plausibler Überlegungen Gene mit hoher Relevanz für die untersuchten Phänotypen. Dieser Ansatz war für Essstörungen nicht sehr erfolgreich, für die Gewichtsregulation konnte jedoch eine Handvoll Gene identifiziert werden. Verbunden mit großen methodischen Fortschritten in der genetischen Forschung und v.a. der Etablierung sogenannter genomweiter Assoziationsstudien (GWAS) Anfang der 2000er Jahre konnten bislang über 1000 Varianten/Genorte detektiert werden, die das Körpergewicht beeinflussen. Für die Essstörung Anorexia nervosa (AN) sind aktuell acht solcher Genorte beschrieben. Diese Ergebnisse aber auch aktuelle Ansätze zu Phänotyp-übergreifenden Analysen lassen Einblicke in die komplexe Regulation des Körpergewichtes zu und haben zudem unerwartete Pathomechanismen für AN aufgezeigt, die erstmalig eine metabopsychiatrische Störung bei der AN vermuten lassen.

11:15 Uhr || Diagnostik und Komorbiditäten bei Essstörungen

Prof. Dr. med. Martina de Zwaan, Hannover

Neben der Anorexia nervosa (AN) und der Bulimia nervosa (BN) werden in der ICD-10 die atypischen und sowohl in der ICD-10 als auch im DSM-5 die nicht näher bezeichneten (NNB) Fütter- und Essstörungen unterschieden. In das DSM-5 wurden außerdem „andere näher bezeichnete Fütter- und Essstörungen“ wie die atypische AN und BN, die Purging-Störung und das Night-Eating-Syndrom eingeführt. Die Binge-Eating-Störung (BES) wird im DSM-5 und in der ICD-11 erstmals als eigenständige Essstörung gelistet. In der ICD-10 findet sich die BES nicht und kann nur als NNB-Essstörung diagnostiziert werden. Eine Migration zwischen den Diagnosen ist häufig. Ein Übergang in andere psychische Störungsbilder ist jedoch selten und unterstreicht die Kategorie der Essstörungen als eigenständige diagnostische Gruppe.

Essstörungen treten häufig zusammen mit anderen psychischen Störungen auf, wobei sich immer die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Störungen stellt. Die häufigsten komorbiden Störungen sind: affektive Störungen mit bis zu 50% in klinischen Gruppen, Angst- und Zwangsstörungen(letztere v.a. bei restriktiver AN) , Persönlichkeitsstörungen und ADHS. Die Komorbidität muss bei der Therapieplanung berücksichtigt werden.

11:45 Uhr || Was ist unter „Severe and Enduring Anorexia Nervosa, SE-AN“ zu verstehen? Diagnostische, therapeutische und ethische Überlegungen.

Univ.-Prof. Dr. med Stephan Herpertz, Bochum

Psychotherapie gilt als Therapie der Wahl von Patientinnen mit Anorexia nervosa (AN). Bei Katamnesen von maximal 10 Jahren genesen weniger als 50% der Pat., ca. 35% gelten als gebessert. Bei 20% der Pat. ist eine Chronifizierung zu beobachten. Die Letalität von 5% ist im Vergleich zu anderen psychischen Störungen hoch. Evidenzbasierte psychotherapeutische Verfahren sind die Enhanced Cognitive Behavior Therapy (CBT-E), die Fokale Psychodynamische Psychotherapie (FPT), das Specialist Supportive Clinical Management“ (SSCM) und das Maudsley Model of Anorexia Nervosa Treatment for Adults (MANTRA), wobei keine dieser Therapien einer anderen überlegen ist. Ein Body Mass Index von < 14 kg/m2 deutet entsprechend den S3-Leitlinien der AWMF auf eine schwere Verlaufsform hin, eine Therapieresistenz ist nach sieben Jahren und wiederholten erfolglosen Behandlungen anzunehmen. Pat. mit diesen Merkmalen werden in angloamerikanischen Publikationen unter dem Begriff SE-AN zusammengefasst, wobei die empirische Evidenz der aufgeführten Kriterien noch unzureichend ist. Die S3-Leitlinien zur Behandlung von Pat. mit AN (AWMF, NICE, APA, RANZCP) basieren auf Kontinenzverträgen, also operanten Methoden bzw. der Selbstkontrolle beruhenden Verfahren, bei denen insbesondere im Hinblick auf die Realimentation und die Gewichtsentwicklung Vereinbarungen einschließlich Sanktionen zwischen Therapeut/Therapeutin und Pat. geschlossen werden. Insbesondere bei Pat. mit SE-AN führen diese Vereinbarungen mit dem Primat der Gewichtszunahme häufig zu Behandlungsabbrüchen. In Anlehnung an das supportiv ausgerichtete SSCM wird alternativ eine Verschiebung des Therapiefokus von der Gewichtszunahme auf die Lebensqualität diskutiert, wobei einzig ein vereinbartes Mindestgewicht nicht unterschritten werden darf. Der Vortrag stellt dieses alternative Konzept einschließlich seiner Praktikabilität und ethischen Aspekte zur Diskussion.

13:15 Uhr || Von der stationären Behandlung über die Tagesklinik zum Home Treatment – Behandlungspfade für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Anorexia nervosa

Univ. Prof. Dr. med. Beate Herpertz-Dahlmann, Aachen

In vielen europäischen Ländern einschl. Deutschland wird die stationäre Behandlung immer noch als Goldstandard zur Behandlung der kindlichen und jugendlichen AN angesehen. Viele Studien zeigen jedoch, dass die Rückfallrate sehr hoch ist und viele Kinder und Jugendliche die stationäre Aufnahme als Zwang erleben. Studien zeigen darüber hinaus, dass die stationäre Behandlung anderen Behandlungssettings nicht überlegen ist. Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, alternative Behandlungsmethoden mit dem Goldstandard, d.h. der stationären Behandlung, zu vergleichen. Im Rahmen eines großen RCT mit über 170 Patienten fanden wir heraus, dass die Behandlungsergebnisse nach einer step-down Behandlung aus kurzzeitiger stationärer Behandlung gefolgt von Tagesklinik einer ausschließlich stationären Behandlung nicht unterlegen waren. Nach 2.5 Jahren erwies sich die tagesklin. Behandlung sogar als effektiver.

Trotzdem war die Anzahl der Rückfälle mit ca. 30% der Patienten nach 2.5 Jahren aus unserer Sicht immer noch zu hoch. Patienten und Eltern teilten uns mit, dass der Übergang zu schwierig sei. Aus diesem Grund initiierten wir eine Behandlung zuhause, bei der die Patienten in absteigender Frequenz über vier Monate durch ein multiprofessionelles Team behandelt werden. Erste Ergebnisse waren vielversprechend. Damit eine solche Behandlung in die Regelversorgung aufgenommen werden kann, wird zurzeit in einem durch den Innovationsfond geförderten multizentrischen randomisierten Projekt an den LVR Kliniken Bonn und Viersen, der LWL-Klinik Hamm und den beiden Unikliniken Münster und Aachen das Home Treatment mit der stationären Behandlung verglichen. Sowohl Eltern als auch Patienten waren bisher sehr zufrieden.

13:45 Uhr || Zu Hause-Behandlung bei Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen: Ansätze und Erfahrungen im multiprofessionellen Team

Univ. Prof. Dr. med. Beate Herpertz-Dahlmann, Aaachen
Ute Thevissen, Aachen
Varinja Blume, Aachen

Home Treatment ist konzipiert als mehrfach wöchentlich aufsuchende multidisziplinäre Behandlung zu Hause für adoleszente Patienten mit Anorexia Nervosa und deren Familien im Anschluss an eine kurze stationäre Stabilisierungsphase. Das Behandlungskonzept verkürzt die stationäre Behandlung, ermöglicht eine frühere und effektivere Reintegration in den Alltag und fördert und unterstützt den Einbezug der primären Bezugspersonen in die Therapie.
Das therapeutische Team bildet die Schnittstelle zwischen Station und zu Hause Es werden unter fachärztlicher Supervision relevante Bausteine durch nicht-ärztliches Fachpersonal wie Mitarbeiter des Pflege- und Erziehungsdiensts und Fachtherapeuten übernommen.

14:15 II COVID-19: Pandemieeinflüsse auf die Lebens- und Versorgungsrealität von Kindern und Jugendlichen, insbesondere mit Essstörungen

Dr. med. Freia Hahn, Viersen

Die Pandemie hat auch das Leben der ca. 13 Millionen Kinder und Jugendlichen in Deutschland auf den Kopf gestellt. Bundesweit nehmen seit der Pandemie die Anfragen in den Kliniken und Praxen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie zu, sehr häufig aufgrund von Essstörungen. Der Vortrag nimmt die Folgen der Pandemie auf die Lebensrealität und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in den Blick, insbesondere die Entwicklung von Essstörungen. Hypothesen möglicher Ursachen werden erörtert und am Beispiel der LVR-Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie die Auswirkungen der Pandemie auf die Belegungs- und Versorgungssituation dargestellt.

15:30 Uhr II Neue pharmakologische Ansätze bei Essstörungen

Prof. Dr. med. Johannes Hebebrand, Essen

Das klinische Bild der Anorexia nervosa zeigt viele Gemeinsamkeiten mit den somatischen und psychischen Folgen einer Starvation. Depression, gedankliche Beschäftigung mit Essen, reduzierte Konzentrations- und Merkfähigkeit stellen einige der überlappenden Symptome dar. Durch genomweite Assoziationsstudien sind Überlappungen der genetischen Prädisposition zu Anorexia nervosa mit denen zu verschiedenen metabolischen Phänotypen bekannt geworden. Es gibt beispielsweise negative genetische Korrelationen zu BMI bzw. Fettmasse und Leptinspiegel. Basierend auf diesen Erkenntnissen wurde diese Essstörung als metabo-psychiatrische Störung bezeichnet. Es wird diskutiert, inwieweit die psychische Symptomatik der Essstörung nicht das Epiphänomen entsprechender metabolischer Veränderungen darstellen könnte. Hieraus ergeben sich potentiell neue pharmakologische Strategien. Im Rahmen einer randomisiert kontrollierten Studie mit geringer Fallzahl ist bereits ein Ghrelin-Agonist mit nicht signifikantem Ergebnis untersucht worden; Ghrelin ist ein Hormon, das bei Hunger in den Belegzellen des Magens freigesetzt wird. In Einzelfallstudien konnten sehr positive Einflüsse von off-label eingesetztem, rekombinant hergestelltem humanen Leptin ermittelt werden; diesem Sättigungshormon kommt eine maßgebliche Rolle zu bei der Adaptation des Organismus an den Hungerzustand. Patienten, die so behandelt wurden, zeigten eine starke Verbesserung ihrer Depression, Bewegungsdrang und gedankliche Beschäftigung mit Essen ließen nach, teilweise nahmen Hunger und Appetit zu. Randomisiert kontrollierte Studien sind erforderlich, um diesen therapeutischen Ansatz weiter zu verfolgen.

16:00 II Psychotherapie bei Essstörungen im Erwachsenenalter

Prof. Dr. Hans-Christoph Friederich, Heidelberg

In der Corona-Pandemie kam es zu einem rasanten Anstieg der Prävalenz von Essstörungen. Bei Mädchen und jungen Frauen zeigte sich insbesondere eine Zunahme der Magersucht mit häufig sehr dramatischer Gewichtsabnahme in sehr kurzer Zeit. Ein vermehrtes Auftreten der Binge-Eating Störung konnte bei beiden Geschlechtern und über verschiedene Altersgruppen hinweg beobachtet werden. Neben der vermehrten Erstmanifestation von Essstörungen konnte auch eine Zunahme von Rückfällen bei ehemaligen Patientinnen und Patienten beobachtet werden.

Die Corona-Pandemie hat sehr eindrücklich gezeigt, welche Folgen soziale Isolation, Verlust der Tagesstruktur und Ungewissheit nicht nur für Jugendliche sondern auch Erwachsene mit einer Prädisposition für Essstörungen haben. Die aktuelle Corona-Pandemie gibt wichtige Hinweise zur Verbesserung von Präventionsmaßnahmen bei Risikogruppen, auf die im Rahmen des Vortrags näher eingegangen werden soll.

Psychotherapie gilt als Therapie der ersten Wahl für das gesamte Spektrum der Essstörungen. Im Rahmen des Vortrags werden die Untersuchungen zur Wirksamkeit von psychotherapeutischen und pharmakologischen Behandlungen basierend auf aktuellen Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen dargestellt. Die Therapie der Magersucht im Erwachsenenalter stellt jedoch weiterhin eine besondere Herausforderung dar und die Behandlungsergebnisse sind trotz intensiver therapeutischer Bemühungen häufig nicht zufriedenstellend. Der Vortrag fokussiert zusätzlich auf innovative neurowissenschaftlich informierte und experimentelle Ansätze zur Behandlung der Magersucht.

Partner

LVR auf Instagram
LVR auf Facebook

Kontakt

Landschaftsverband Rheinland
Dezernat 8
50663 Köln
veranstaltungen-klinikverbund@lvr.de